Fluorid in der Kariesprophylaxe – ein exemplarisches Stück Medizingeschichte
Fluorid spielte in der Zahnhygiene schon im Altertum eine gewisse Rolle: Zweige des “Zahnbürstenbaums” Salvadora persica, dessen Holz neben desinfizierenden Substanzen und kristallinen Putzkörpern auch einen kleinen Fluoridanteil enthält, wurden in Indien und in den islamischen Hochkulturen zur Zahnreinigung verwendet.
Ahnungslose Anfänge
Ein zufälliger, durch positive Erfahrungen bestärkter Glücksgriff – denn was damals über die Entstehung von Karies bekannt war, hält heutigen Erkenntnissen in keiner Weise stand: Die Zahndefekte hielt man für Spuren der Tätigkeit eines Wurms, Fluorid kannte man nicht. Erst im 16. Jahrhundert beschrieb der sächsische Gelehrte Agricola, Vater der Metallurgie, den Schmelztemperatur-senkenden Effekt gewisser Minerale bei der Verhüttung von Erzen und nannte sie Fluoride – Flüssigmacher.
Wie Fluorid im 20. Jahrhundert zu einem universal anerkannten, in zahlreichen Studien für wirksam befundenen Zahnschützer wurde, illustriert exemplarisch den Verlauf wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns: In fast gleichen Teilen das Ergebnis von zufälligen Anfängen, Ahnungen, Irrungen und stringenter Forschung.
Frühes 19. Jahrhundert: Chemiker finden Fluorid in Zähnen und Knochen
Im frühen 19. Jahrhundert wurde aus der Alchemie langsam die exakte Wissenschaft Chemie. Mit neuem Verständnis, analytischen Methoden und klarem Kopf machten sich Chemiker wie der Schwede Berzelius daran, die Gewebe des menschlichen Körpers auf ihre chemische Zusammensetzung hin zu untersuchen. Die Entdeckung von Calciumfluorid (“flusssaurer Kalk”) in Knochen und Zähnen war zunächst kontrovers: Nicht alle Chemikerkollegen konnten die Versuche nachvollziehen und vermuteten eher eine nachträgliche Verunreinigung der Gewebe. Das mag (im Rückblick) daran gelegen haben, dass der natürliche Fluoridgehalt von Wasser und Boden nicht an jedem Ort gleich ist, und entsprechend auch die Einlagerung von Fluorid in die Gewebe von Mensch und Tier von der Lebensumgebung abhängt.
1874: Dr. Karl Erhardt empfiehlt Fluorid-Pastillen. Dem Hund haben sie ja auch nicht geschadet…
So erwachte das Interesse an Fluorid und seinem Einfluss auf die Zähne. Als einen der ersten medizinischen Fluorid-Befürworter erwähnt die Literatur den deutschen Arzt Karl Wilhelm Eugen Erhardt: 1874 empfahl er zur Verbesserung der Zahngesundheit die Einnahme von Kaliumfluorid-Pastillen, zu beziehen aus einer Freiburger Apotheke für eine Mark pro Schachtel à 20 Stück.
Erhardts Empfehlung stützte sich kurioserweise lediglich auf ein Experiment an einem Hund, von dem er berichtet, das Tier sei einige Monate mit kleinsten Dosen eines Kaliumfluorid-Präparats gefüttert worden. Im Vergleich von zwei Backenzähnen – der eine vor, der andere nach der Fluoridkur extrahiert – zeigte sich der Schmelz des zuletzt gezogenen als dicker und härter.
Ein Hund und zwei Zähne – einen solchen “Nachweis” würde die moderne Wissenschaft als höchstens anekdotisch werten und dringend weitere Versuche fordern. In einer Zeit, in der Wissen und Glauben bei aller behaupteten Modernität doch nicht ganz so streng getrennt waren, genügte Erhardts Empfehlung, in Vorträgen und Publikationen wiederholt, um die Verbindung zwischen Fluorid und Zahngesundheit erstmals in den Köpfen von Ärzten und Naturwissenschaftern zu etablieren. Ohne die Notwendigkeit weiterer Beweise allzu tief zu empfinden, wurde Fluorid bald auch zur Beschleunigung des Zahndurchbruchs empfohlen: So seit 1887 von Wilhelm Schüssler, dem Erfinder der homöopathisch dosierten Schüssler Salze. (Die Indikationen von Calcium fluoratum, Schüssler Salz Nr. 1, sind seitdem modernisiert worden.)
1880: Frühe Fluorid-Euphorie
Aber nicht nur für die Zähne sollte Fluorid gut sein: In den 1880er Jahren meinte man euphorisch, in Fluoridmangel (angeblich durch verarmte Böden und moderne Nahrungsmittelhygiene) die Ursache für viele Zivilisationsleiden entdeckt zu haben. Fluoridgaben sollten demnach auch gegen Krankheiten von Leber, Niere, Darm und Verdauungsdrüsen helfen.
(Vierzig Jahre später war Radioaktivität die neue Wunderkur: Mineralwasser, Kosmetika und auch Zahnpasta wurden mit strahlendem Radium versetzt… )
Besonders überzeugend fasste Ende des 19. Jahrhunderts der Mainzer Chemiker Albert Deninger zusammen, was man damals über Fluorid wusste oder zu wissen glaubte. Deninger “therapierte” neben anderen Versuchspersonen auch seine Frau und seine Töchter mit – heute würde man sagen gefährlich – hohen Dosen von oralem Calciumfluorid und präsentierte auf Zahnärzte-Kongressen stolz seine Tochter Bertha und ihre “perlen-gleichen Milchzähnchen”. Gestärkt von Deningers Empfehlungen, vermarktete eine Bremer Firma seit 1895 unter dem Markennamen “Tanagra” die ersten fluoridhaltigen Zahncremes, -pulver und Mundwässer.
Im zweiten Teil der Serie zur Fluorid-Geschichte lesen Sie, wie Anfang des 20. Jahrhunderts unsere modernen Vorstellungen über die Wirkung von Fluorid geprägt wurden.
(Foto: © adiruch na chiangmai, fotolia.com)
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